Hass. So ein starkes Wort für eine noch stärkere Emotion. Manchmal kommt es leichter über die Lippen als dass es wirklich die Empfindung beschreibt.

Irgendwo habe ich mal gelesen, dass man sich genau überlegen soll, ob jemand oder etwas diese Emotion wert ist. Weil man sich dann so intensiv damit beschäftigt.

Bob Blume hat gleich 10 Dinge gefunden, die er hasst. Nämlich an der Schule. Und ja, da muss ich sagen, da gehe ich bei Vielem mit. Wenn ich über ein Thema mit Herzklopfen und einer Rage im Bauch nachdenke und spreche, ist das wohl nah an Hass dran. Als positiver Mensch gefallen mir seine „10 Thesen für eine bessere Schule“ natürlich noch mehr. Aber von vorn.

Im Frühjahr 2022 veröffentlicht Bob sein erstes Sachbuch 10 Dinge, die ich an der Schule hasse. Und wie wir sie ändern können. Ich darf mich glücklich schätzen, dass Bob mir sein Buch zukommen lässt und nach meiner Meinung fragt.

Endlich sind Sommerferien, ich freue mich endlich alles in Ruhe lesen, überlegen und dann auch rezensieren zu können. Doch statt Strand ist es die heimische Terrasse. Statt ausgelassener Stimmung ist es eine fette Mandelentzündung. Ich schaffe es zwar alles zu lesen, aber der Schulalltag holt mich sehr schnell wieder ein. Eigentlich noch so eine Sache, das 11. Ding, das ICH an der Schule hasse: Manchmal muss man als Lehrkraft alles hinten anstellen und sich für die privaten Dinge von Ferien zu Ferien hangeln.

Nun in der schulischen Zeit „zwischen den Jahren“ (= Halbjahreszeugnis) finde ich Zeit und Muße mir meine ganzen Markierungen anzuschauen und zu reflektieren.

Bob geht geschickt vor. Er ordnet erst einmal ein, beschreibt dann seine 10 Hass-Themen, gibt einen Ausblick und schiebt dann noch die positiven Sachen zum Schluss hinterher:

Ha, man könnte fast sagen, eine perfekt phasierte Unterrichtsstunde aus Einstieg, Erarbeitung, Sicherung und Transfer. Und so möchte ich auch mein Feedback aufbauen.

Einstieg

Die Corona-Pandemie wird auch hier als ein klarer Einschnitt erkannt, was ein guter Aufhänger und somit guter Einstieg in die Thematik ist:

„Tausende Lehrkräfte, Eltern sowie Schülerinnen und Schüler vereinigte in der Coronazeit der Hass auf starre Strukturen. Es war oft so, als könnte man das Ufer einer anderen Insel sehen, könnte erkennen, welche Möglichkeiten sich abzeichneten, doch ohne Floß oder Brücke waren diese nicht zu erreichen und damit nicht zu verwirklichen.“

(Vorwort, S. 14)

Als Überleitung erklärt Bob die weiteren Probleme, die damit einhergehen. Hier lass ich ihn gern selbst sprechen:

Die Erarbeitungsphase

Ich sagte schon eingangs, dass ich bei vielen Hass-Gründen gleicher Meinung bin. Bei manchen mehr, bei manchen weniger.
Besonders als Geschichtslehrerin, eins der Fächer, das ich mit Bob teile, fällt mir oft auf, dass wir viel zu viel Stoff im Lehrplan stehen haben. Oft ist es utopisch diesen komplett auf der Schülerseite „ankommen“ zu lassen, wenn man nicht nur stupides Faktenwissen erzielen möchte.

Im Sinne meiner pädagogischen Freiheit reduziere ich also hier und da und lege meine Schwerpunkte passend zur Lerngruppe und/oder auch im Hinblick auf aktuelle Geschehnisse fest. Das sollte viel öfter mutig gemacht werden, denn:

„Die Abwendung vom Stoff beinhaltet [die Chance], das Lernen und die Schule neu zu justieren. … [E]in solches Nachdenken braucht zwei Dinge, die Lehrer sowie Schüler nicht haben: Zeit und Muße. … Der Stoff verhindert [also] eine ausführliche Beschäftigung mit einer derartigen Neujustierung.“

(Kapitel 1 Der Stoff steht über allem, S. 33)

Nur dann kann ich auch meinen Unterricht auf die Bedürfnisse und Bedingungen anpassen, sonst bleibt der Unterricht erstarrt: „Wir bereiten Schüler unter Bedingungen der Vergangenheit auf die Zukunft vor.“ (Kapitel 2, Unterricht ist erstarrt, S. 38)
Dass das mehr Arbeit bedeutet, ist klar. Sowohl auf Lehrerseite aber auch auf Schülerseite. Man kann sich nicht mehr „wegducken. Nichts mehr zu tun ist nicht mehr so möglich, wie es vielleicht klappt, wenn der Lehrer vorne steht und sich in endlosen Erklärungen verliert.“ (Kapitel 2, S. 52).

Nun bin ich nicht nur Fachlehrerin, sondern auch Beauftragte und mittlerweile sogar Koordinatorin für Digitalisierung. Daher ist meine größte Übereinstimmung wohl bei der Bürokratie als Hass-Objekt. Hört selbst:

Die Kapitel 4 Noten als Pawlowsche Reflexe und 5 Prüfungen als heiliger Gral vereinen meiner Meinung nach sehr gut die aktuelle Diskussion mit allem Für und Wider. Ich selbst bin mir noch nicht ganz sicher, wie ich es fände, wenn tatsächlich Noten abgeschafft würden und was an deren Stelle treten könnte. Denn, so wie ich das System kenne, ist der Ersatz manchmal nicht besser oder die Idee gut, aber die Umsetzung lässt zu wünschen übrig. Ich würde es aber ausprobieren wollen, bspw. bis Klasse 7 oder 8 (auch wenn aus Sicht der weiterführenden Schule die „Erprobungsstufe“ dann wirklich gute Alternativen braucht, um eine passende Schullaufbahn zu gewährleisten).

In Bezug auf Prüfungen „predige“ ich selbst seit Jahren, dass ich oft und gern viel mehr die Ersatzleistungen in Anspruch nehme, die mir der jetzige Rahmen (zumindest in NRW) schon bietet. Ich sehe jedes Mal, wie viel mehr sich Kinder und Jugendlich bemühen, weil sie Spaß an einem (selbst gewählten) Thema oder Zugang haben.

Dabei möchte ich einen Aspekt nochmal genau betonen: das Faktenwissen. Ich sagte schon, wenn es NUR darum geht, ist es stupide. Ich brauche es aber als Grundlage. Dazu Bob:

„Das heißt nicht, dass es im Jahr 2022 nicht auch sinnvoll sein könnte, bestimmte Begriffe und vor allem die dahinterstehenden Konzepte zu lernen. Ansonsten wird alles, was ich noch so schön formulieren oder aufschreiben kann, zur bloßen Meinung. Hier unterscheide ich mich von jenen progressiven Kräften, die der Ansicht sind, heutzutage könne man alles googeln. Man kann jedoch nur das googeln, von dem man weiß, dass es existiert.
Und man kann auch nur etwas mit Dingen anfangen, wenn man ihren Zusammenhang versteht. Dennoch oder gerade auf dieser Grundlage ergeben sich Veränderungen für Prüfungen.“

(Kapitel 5 Prüfungen als heiliger Gral, S. 87)

Die Veränderungen sollten sich definitiv auch auf der Ebene der Ausbildung der Lehrkräfte ergeben. Vor ein paar Tagen habe ich meine Erfahrungen mit der neuen KI „ChatGPT“ geteilt. Allein dadurch müsste es nun wirkliche Veränderungen auch im Studium und im Vorbereitungsdienst geben. Wie Bob schon vor ChatGPT schreibt:

„Künftige Lehrergenerationen sollten aber die Schwierigkeiten des Wissenserwerbs in einer digitalen Kultur benennen können, nur so können sie Schüler darauf vorbereiten, mit dem sich verändernden Wissen umzugehen. Wird dies versäumt, entsteht unnötiges Bullshit-Bingo. Schüler referieren dann zusammengekleisterte Funde aus dem Netz, und Lehrer suchen nach Plagiaten. Das ist jetzt schon Realität, hat aber weniger damit zu tun, dass man Schülern vorwerfen müsste, nicht mit Wissen umgehen zu können. Vielmehr ist zu fragen, inwiefern Lehrer in ihrer Ausbildung und während des Studiums gelernt haben, mit der Informationsflut und dem vernetzten Wissen umzugehen.“

(Kapitel 6 Die Lehrerausbildung prüft das Falsche, S. 106)

Genau das ist ein Punkt, der meiner Meinung nach nicht nur die Ausbildung, sondern auch die Fort- und Weiterbildung der Lehrkräfte betrifft. Schon in meinen „digitalen Anfängen“ erwähnte ich, dass die fertigen Lehrer nicht vergessen werden dürfen. Auch – oder gerade? – sie brauchen Anreize das den Schülern vorgekaute „lebenslange Lernen“ auch für sich zu nutzen. So scharf es klingt: „Schlechte Lehrer haben es [sonst] zu leicht.“ (Titel von Kapitel 7).

Das ist eine Frage von Einbindung aller ‚Kräfte’ im wahrsten Sinne des Wortes. Auch die Eltern stehen manchmal außen vor, ohne dass das so sein müsste. Bob zitiert hier Matthias Förtsch und Friedemann Stöffler: „Die Arbeit mit Eltern ist die wohl am meisten unterschätzte Ressource in Schulentwicklungsprozessen.“ (Kapitel 9 Eltern werden nicht eingebunden, S. 169)

Genauso sieht es auf Seiten der Schülerinnen und Schüler aus. „Vielmehr ist zentral, dass Schülerinnen und Schüler nicht pausenlos das Gefühl haben, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird. Dass sie selbst keine Entscheidung treffen können. Dass sie abhängig sind vom System. Oder dass ihre Ideen, Bedürfnisse oder ihre Kritik nicht ernst genommen werden.“ (Kapitel 10 Die Boomer ignorieren die Generation Social Media, S. 179)

Wenn man sich diese ganzen Aspekte anschaut, kommt man wieder zurück zu dem, was schon direkt am Anfang gefordert wurde: Mehr Zeit und Muße (Kapitel 1, S. 33). Das wäre also meine Hauptforderung für alle Beteiligten: auf höchster Ebene nicht (nur) parteipolitisch und bis zur nächsten Legislaturperiode zu denken, sich eben nicht nur von Schuljahr zu Schuljahr und/oder Ferien zu Ferien schaukeln. Sondern ganz echt Schule neu denken. Mit ‚Mutausbrüchen’ wie es so schön auf Social Media heißt.
Übrigens: Dem aufmerksamen Leser ist nun vielleicht aufgefallen, dass ich ein Kapitel ausgelassen habe, nämlich Nummer 8 Die Digitalisierung wird nicht verstanden. Dieses Kapitel ist im Vergleich fast ein bisschen schwach, finde ich. Ich schätze aber, so wie ich Bob kenne, hätte er allein zu diesem Kapitel mit dem Titel ein ganzes Buch schreiben können und musste sich daher etwas zurückhalten.

Didaktische Reserve

Auch ich habe einige meiner Schülerinnen und Schüler gefragt, was sie an der Schule bzw. am Schulsystem hassen Sie sind auf neun Dinge gekommen, die vielleicht spezifisch für die Schülersicht gelten, sich aber ganz viel mit Bobs Aussagen decken. Ich gebe diese ‚Beanstandungen’ einfach mal ohne Bewertung und auch ohne Ranking weiter:

1 Beschränkung auf Fächer

Zusammenhänge könne man besser verstehen, wenn sie nicht wie Schubladen getrennt sind

2 Zeitspanne einer Schulstunde überprüfen:

warum ist nach 45/70/90 Minuten Schluss mit dem Thema?

3 Auswahl der Inhalte

zusätzlich wollen sie mehr Wissen aus „dem echten Leben“

gern würden sie mehr moderne „Lebensentwürfe“ für die nächste Lebensphase kennenlernen, nicht nur Studium oder Ausbildung

4 Hausaufgaben

keine Freizeit, viel zu viel unnötige Aufgaben

5 Früh aufstehen

man bekommt nicht genügend Schlaf, weil man als Jugendlicher einen anderen Schlafrhythmus hat

6 Noten

sinnlos, man wird anhand einer Zahl bewertet,

Druck: Angst um Zukunft

manche Fächer, zB Kunst oder Sport, sind eigentlich nicht „be-wert-bar“ und/oder haben unzeitgemäße Bewertungskriterien (Tabellen für 800m-Lauf, Kreativität beim Tanzen?)

fehlende Individualität bei Notengebung (alle bekommen die gleiche Aufgabe, die sie nach ihren Möglichkeiten aber vielleicht gar nicht erfüllen können)

7 Fehlende Wahlmöglichkeiten

Auswahl nach Interesse und Neigung sollte früher als im Wahlpflichtbereich bzw. der Oberstufe stattfinden

8 Sitzenbleiben

bringt einfach nichts

9 Bild von Schule

falsche Vorstellungen oder Meinungen: warum ist diese Zeit (trotzdem) so wichtig?

man verbringt dort sehr viel Zeit seines Lebens, wie kann man sie also ernst nehmen und eine gute Zeit haben

Fazit

An manchen Stellen hätte ich mir noch konkretere Vorschläge für Veränderungen bzw. Verbesserung gewünscht. Gleichzeitig denke ich aber, dass es nicht das letzte Werk von Bob sein wird und er vielleicht aus dem ein oder anderen Kapitel noch ein ganzes Buch macht. Oder ein Hörbuch. Denn auch die Variante, die Bob selbst eingesprochen hat, bringt die Inhalte in seiner eigenen Betonung nochmals anders rüber.

Daher bekommt 10 Dinge, die ich an der Schule hasse. Und wie wir sie ändern können auch ganz klar eine Empfehlung von mir, egal in welcher Form:

1 Für alle Personen außerhalb von Schule:

Vor allem die Bedingungen, unter denen gelernt und gelehrt wird, sind als guter Überblick dargestellt. Man versteht vielleicht mehr, warum Dinge manchmal so laufen, WIE sie laufen. Außerdem bietet es eine Einladung an alle, die sich mehr beteiligen möchten – und vielleicht nicht (mehr) kritisieren (?)

2 Für alle Personen innerhalb der Schule:

Eine gute Lehrkraft macht sich Gedanken um die eigene Arbeitssphäre. Allein dieses Nachdenken zeigt schon, dass man auf der Seite ‚der Guten’ ist. Man fühlt sich einerseits durch Bobs Zeilen verstanden, nickt ganz oft mit, wird vielleicht sogar wütend, und kann dann aber auch neue Impulse für seine Schule mitnehmen. (Wieder) mehr den eigenen Spielraum nutzen. Wann würde das besser passen als jetzt zum neuen Jahr und zum neuen Halbjahr!

Zuletzt ist es nämlich das, was auch zu meinem eigenen Naturell passt. Man muss die schlechten Dinge benennen, um sie dann ändern zu können. Auch ich bin „[h]artnäckig optimistisch, dass Veränderung möglich ist. (Nachwort, S. 225)

Vielen Dank, lieber Bob, für deine Arbeit! Ich freue mich auf weitere Werke.

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